Eröffnungsrede Dr. Peter Guth

(Ausstellungseröffnung 24.01.2003, Personalausstellung Sighard Gille, Kulturspeicher Oldenburg)

 

Meine sehr geehrten Damen und Herren,

Sie haben sich nicht gerade auf eine bequeme Kost eingelassen. Sighard Gille ist Provokateur und ganz und gar ungeeignet für den besinnlichen Abend mit Kunst. Er tritt, wenn man ihm begegnet, in aller Freundlichkeit auf und wird nie das kultivierte Gespräch verweigern. Aber es ist, besonders meine Damen, der Handkuss des Anarchisten, den Sie empfangen. Und dies ist, ich will es gerne bekennen, eine der sympathischsten Eigenschaften von Sighard Gille: Er, der wohlbestallte Professor, der mit Künstlermütze locker den Tag Tag sein lassen könnte, kann sich nicht abfinden mit Dummheit und Borniertheit, mit immer wieder zu kurz gedachten Lösungen. Er ist und bleibt das trotzige Kind, nicht der Blech-, sondern der Farbtrommler, der der sich weigert groß zu werden, wenn denn Groß-Werden bedeutet, so zu sein wie die, die im TV den alltäglichen Unsinn verkünden. Mich erinnert Gille auch immer etwas an Hans Fallada, der als Kind die hohlen Gesellschaften seines Vaters, des Gerichtspräsidenten, hasste und sich nicht anders wehren konnte als zumindest ins feine Damast-Tuch zu schnäuzen, wenn die gruselig-nichtssagenden Gäste denn schon kommen mussten. Sighard Gille hat ein anderes Protestinstrument: Er ist Maler.

 

Das klingt wie ein furchtbarer Gemeinplatz, aber in der Endzeit der Konzeptualisten ist das noch immer oder schon wieder ein Thema. Wir haben, meine Damen und Herren, diese finale Phase der konzeptuellen, zumeist selbstreferentiellen Kunst von zwei Enden her zu betrachten: Es ist einmal die Seite, die mit der klassischen Moderne zu tun hat: Da war die adäquate Umsetzung des maschinellen Rhythmus in die Kunst das Gebot der Stunde. Der Künstler wurde plötzlich zum Ingenieur der Seele, wie Väterchen Stalin sagte und alles um die Menschen herum wurde Maschine und Ausfluss ingenieurtechnischen Begreifens der Welt. Rationalität war oberstes Gebot. Aber im Gegensatz zur Renaissance, die schon einmal das Rationale gefeiert hatte, galt jetzt die Sinnlichkeit fast als Tabu. Und das war eine Entwicklung, die vor allem in Westeuropa nach den 2. Weltkrieg weiter ging. Bis in die endsiebziger Jahre hinein war der Glaube an den technischen Fortschritt ungebrochen. Niemand wollte wirklich die warnende Stimme etwa Jose Ortega y Gassets hören, der schon 1930 gesagt hatte: „Aber jetzt ist es der Mensch, der scheitert, weil er mit dem Fortschritt seiner eigenen Zivilisation nicht Schritt halten kann."

 

Und man muss die zweite Seite dieser Medaille unbedingt betrachten: Die Figur erwies sich als völlig desavouier: Nazis und Bolschewiken gleichermaßen hatten alles, übrigens auch die figürliche Moderne der Impressionisten und Expressionisten, perfekt in Dienst gestellt. Um es extrem zu sagen: Das östliche Pendant zu Arno Breker hieß Vera Muchina, die die überdimensionierte Doppelfigur von Arbeiter und Kolchosbäuerin in schuf. Beide Künstler starteten ihre Karriere auf der gleichen Weltausstellung in Paris 1937: der deutsche und der russische Pavillon standen sich wetteifernd gegenüber.

 

Mit dieser Doppel-Last von westeuropäischer Fetischisierung der Moderne und politischer Desavouierung der Figur hatte zunächst auch die Malerei der DDR nach der Wende zu schaffen. Man weiß natürlich heute genauer, dass hier nicht nur Grundsatzfragen ausgetragen wurden, sondern auch Marktmechanismen ihre Wirkung zeigten. Aber mit dem zeitlichen Abstand stellt sich doch dar, dass die Attacken auf die Malerei essentiell im Industriezeitalter gründen. Mit dessen Ende, mit dem Eintritt in die postindustrielle Gesellschaft, fehlt sozusagen die sachliche Rechtfertigung der Nicht-Figürlichkeit. Und prompt stellt sich eine junge Generation darauf ein. Das tut sie nicht mit philosophischem Hinterland, sondern weil die Zeit etwas anderes will und formt - ganz unabhängig von Kunstpäpsten. Sie will nicht Kalkül, das keine Versprechungen macht und machen kann; sie will nicht Emotionslosigkeit, sondern sie sucht Gefühl und vor allem Mythos. Nietzsche hat ja gesagt, das der Mythos durch den Geist der Wissenschaft vernichtet wurde. So richtig das ist, stimmt der Satz aber auch umgekehrt: Die Enttäuschung durch die Rationalität, durch die, wenn Sie so wollen, gescheiterte Aufklärung, sucht wieder den Mythos.

 

Und genau in der Fähigkeit zur Mythenbildung, im Glauben daran, dass hinter dem Bild wieder ein Wunder wartet, liegt die Erklärung für den Erfolg der Leipziger Malerei, die am Beginn der neunziger Jahre tot geredet worden war. Künstler wie Neo Rauch reüssieren auf der internationalen Szene und die Liste derer, die auf Erfolgskurs sind, ließe sich mit Namen wie Gudrun Petersdorff, die hier bei ihnen schon ausgestellt hat, Peter Busch, Tilo Baumgärtel, Jörg Lozek und Matthias Weischer, die letzten beiden übrigens Gille-Schüler, mühelos fortsetzen.

 

Das, was auf der Suche nach einem griffigen Label im Feuilleton vereinfachend und nicht ganz zutreffend „Leipziger Schule" genannt wird, hatte indessen weder aufgehört zu existieren, noch in der Produktivität nachzulassen. Nach der ersten Leipziger Lehrergeneration, zu der Elisabeth Voigt, Max Schwimmer und Hans Theo Richter gehörten, und zweiten Lehrergeneration, die sich mit Namen wie Bernhard Heisig, Wolfgang Mattheuer oder Werner Tübke beschreiben lässt, ist jetzt die dritte Generation der Lehrer, zu der Sighard Gille gehört, erfolgreich tätig. Und all das mit nicht nachlassender Lust auf Bilder. Werk und Wirkung des enorm produktiven Sighard Gille belegen das überzeugend. Gille macht im Wortsinn Schule und der Erfolg seiner Studenten wirkt auf den Lehrer zurück. Das eigentlich zeichnet Kontinuität aus.

 

Sighard Gille war zu einem Star nicht nur der Leipziger Szene geworden als er von 1979 bis 1981 die gut 700 m² der Decke des Gewandhausfoyers, eines der größten Prestigebauten in Leipzig überhaupt, bemalt hatte. Das war nicht nur ein Erfolg und damit eine Option auf die Zukunft, sondern auch eine Bürde. Die im Erfolg liegende Chance hat er vor allem dadurch bestens genutzt, dass er sich nicht pausenlos selbst wiederholt hat.

 

Gille als expressiver Farbpoet ist einer, der die Malerei nicht mit Philosophie überfrachtet (was vielfach ein Vorwurf an die Leipziger Künstler war), wohl aber philosophisch denkt, nämlich von zwei Enden her: vom Anfang und vom Ende einer Geschichte. Sozusagen einer, der die Kerze am Alpha und am Omega anzündet. Das ist ein Vorgehen, das viel mit Ironie zu tun hat und wenig mit Gleichmut. Gille ist aggressiv oder, wie ich eingangs sagte: anarchistisch geblieben. Dazu gehört seine subversive Technik: Er baut geistige Störfelder auf, die ihren Ursachen- und Wirkungsraum in einer saturierten, medial überfrachteten und verlogenen Wohlstandsgesellschaft haben und erinnert damit an den mephistophelischen Satz: „Am Ende hängen wir doch ab von Kreaturen, die wir machten".

 

So versteht sich vielleicht auch das merkwürdige, „Hanfbombe" genannte Gerät, eine Camouflage von U-Boot, Torpedo, Bombe und Zigarre: Es spielt ohne Zynismus angesichts der unerträglichen, nach vom offenen Zahl von Opfern auf unsere verrückt gewordene Gegenwart an. Vielleicht ist Sighard Gille, der mit den eingearbeiteten Hanf-Fasern auch noch das Rausch-Verliebte, Labile und Scheinweltliche unserer Gesellschaft thematisiert - nur am Rande sei bemerkt, dass Mythos und Rausch viel miteinander zu tun haben - vielleicht ist Gille also gar nicht so recht klar, dass er sich gerade auch mit dieser Figuration entgegen dem Trend in der Tradition der Aufklärung bewegt. Kunst ist sicher kein Allheilmittel gegen die Schmerzen der Welt, aber sie ist eine Chance, in den verschlissenen Sprachen und Bildern der Medien, eben der öffentlichen Meinung, wieder und so stark wie lange nicht, Vernunft anzumahnen.

 

In diesem Kontext verstehen sich die plastischen Mundköpfe. Sie haben wie alle Figurationen bei Gille zahlreiche Bedeutungsebenen. Sie funktionieren auf einer theatralischen Ebene, als Haut-den-Lukas-Figur, als Stellvertreter für Aggressionsabbau sozusagen. Die Mundköpfe rufen aber noch andere Ebenen auf. Da ist das Spiel mit der Angst vor dem Ufo, die Angst vor dem Fremden schlechthin. Da scheinen natürlich die Grotesken des Barock auf, die das Schicksal, das uns erwartende Ungeahnte, anmahnen. Von hier ist es nur ein kleiner Schritt zu dem Muster der törichten Jungfrauen, dem großen Gleichnis für Lasterhaftigkeit und Verzicht auf eine reine Welt des Geistes. Dieses Thema korrespondiert wiederum mit einem älteren Gille-Thema, dem egoistischen, wie man heute so schön sagt: geschmeidigen Geschaftelhuber, der bei Gille „Besorger" heißt.

 

Die gemalten Mundköpfe vollführen den Spagat zwischen Gesichtern als, wie sie Lichtenberg nennt, „unterhaltsame Landschaften" und dem Mund als Tor zum Inneren des Menschen.

 

Die Malereien setzen in stark gewandelter Weise Sighard Gilles Thema der seit einigen Jahren entstandenen Madonnen-Bilder fort. Schon diese Madonnen funktionierten nicht als einschichtige Brechungen christlicher Ikonografie im blasphemischen Sinne, sondern als Spiel mit Tradition und den Bildern, die uns die öffentliche Meinung eingeimpft hat: Madonna, das hat ja nicht nur mit Gott zu tun, sondern absichtsvoll heißt eine Pop-Sängerin so, die sich ziemlich unziemlich zu geben pflegt: Die Pop-Ikone als Ersatz-Göttin. Die Ekstase entsteht nicht mehr, wie vor Jahrhunderten, vor dem Altar, sondern im Pop-Konzert Da im Geschäftsleben Gefühl Panik erzeugt, scheint die Unterhaltungskultur den einzigen Rahmen - und dann auch gleich mit massenhysterischer Effekten - zu bieten, wo das Vorzeigen eigener Emotionalität noch erlaubt ist.

 

Die Mundköpfe, die sich als die Sänger Janis Joplin, Mick Jagger, Bob Dylan, Frank Zappa, Leonhard Cohen und Tom Waits identifizieren lassen, wenden dieses Symbol der Ikone ins Private: Es sind Künstler, die für Gille wichtig waren und es sind Künstler, die den Blues haben. Es ist so, als höre man, gekontert von einem vehementen Farbvortrag, Tom Waits' sentimentales „Tell me things you can remember, tell me things you can forget" oder „It's time, time, time and it's time..." Über diese Sänger lässt Gille etwas zu, was in seinen Bildern nur bei sehr genauer Kenntnis der Person offenbar wird: Gefühl und Verletzlichkeit. Die aufgerissenen Münder freilich rufen, es liegt auf der Hand, noch etwas anderes auf, den Schrei von Edward Munch, ein Bild, das vor mehr als hundert Jahren entstanden ist. Schmerz bleibt sich, wie die Angst, ewig gleich. Der schreiende Mund eröffnet aber nicht nur den Weg zur Seele, sondern auch den Weg in einen weiter ausgreifenden Raum, nämlich in die Geschichte der Menschheit. Und damit ist schlussendlich wieder die Dimension der Malerei Sighard Gilles beschrieben: Sie umgreift die persönliche Lebensbilanz einschließlich der Attraktionen, Abstoßungen, Lächerlichkeiten und Attacken ebenso wie die Geschichte, die insgesamt gesehen unsere Geschichte ist. Und der Ironiker kann nicht anders: Am Schluss sind aus den Bildern und Objekten doch Spiegel geworden, die diejenigen zeigen, die auf sie schauen.

 

© Peter Guth


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